Dokumentation des Online-Workshops „Zur Wirkmächtigkeit von Klassismus in der Kindertagesbetreuung“ vom 12.11.2024

Ein Angebot für die Partnerschaften für Demokratie mit frühpädagogischem Fokus

Soziale Herkunft und Einkommen beeinflussen, wie Kinder und ihre Bezugspersonen von ihrem Umfeld behandelt und adressiert werden. Auch in Kindertageseinrichtungen kann sich Klassismus auf vielfältige Weise äußern. In ihrem dreistündigen Workshop erläuterte Tanja Abou, wie Klassismus definiert, wie er im Alltag von Erzieher*innen und Fachpersonal sichtbar werde und wie klassistischer Diskriminierung in der Kindertagesbetreuung begegnet werden kann. Tanja Abou ist Praxisforscherin, Sozialarbeiterin und seit 15 Jahren Social-Justice-Trainerin mit dem Schwerpunkt Klassismus. Zudem ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Stiftung Universität Hildesheim tätig.

Den Beginn des Workshops leitete Tanja Abou mit einer kurzen Vorstellungsrunde ein, in der die Teilnehmenden berichten konnten, ob und inwiefern sie sich bereits mit dem Thema Klassismus auseinandergesetzt hätten. Dabei wurde deutlich, dass Klassismus oftmals nicht leicht zu greifen sei und der Fokus meist eher auf anderen Diskriminierungsformen liege. Die Teilnehmenden äußerten den Wunsch nach Fakten, Argumentationsmöglichkeiten und Denkanstößen für die eigene Arbeit. Tanja Abou bestätigte den Eindruck, dass in der Gesellschaft nur eine geringe Sichtbarkeit von armutsbetroffenen Menschen zu verzeichnen sei. Die Verantwortung werde in einer Leistungsgesellschaft gerne bei den Einzelnen gesucht, nicht aber in den strukturellen Faktoren. Klassistische Diskriminierung sei so schwer greifbar, weil sie gesellschaftlich auch wenig sanktioniert werde. Es gebe keine große Lobby für materiell arme Menschen, kaum Sichtbarkeit und Repräsentation.

Anschließend ließ Tanja Abou die Teilnehmenden in Kleingruppen darüber reflektieren, wann sie zum ersten Mal festgestellt hätten, dass eine andere Person mehr oder weniger materielle Ressourcen als sie selbst zur Verfügung gehabt habe. Im anschließenden Plenum wurde deutlich, dass die Auseinandersetzung mit materiellen Unterschieden stark von der eigenen sozio-ökonomischen Umgebung abhängig sei. Einige erinnerten sich bereits an Situationen in der Kita, in denen Unterschiede in Kleidung oder mitgebrachtem Essen wahrgenommen wurden. Für andere Teilnehmende, die in einer eher homogenen Umgebung mit vergleichbaren Lebensrealitäten aufgewachsen waren, fand das Erkennen sozialer Unterschiede erst später statt, etwa durch das Vergleichen von Wohnraum oder Urlaubsorten im späteren Freundeskreis.

Tanja Abou erläuterte, dass diese Wahrnehmungen auch auf Institutionen wie Kitas übertragen werden könnten und der Schlüssel im Vorhandensein materiell unterschiedlicher Lebensrealitäten liege. In einer Einrichtung, die sich in einem sehr wohlhabenden Stadtteil befinde, sei Klassismus tendenziell weniger offensichtlich als in einem heterogenen Stadtteil, der beispielsweise von materieller Armut und zugleich von Gentrifizierung geprägt sei. Klassistische Diskriminierung und deren Sichtbarkeit könne je nach Einrichtung also erheblich variieren.

Der zweite Teil des Workshops widmete sich dem theoretischen Hintergrund des Klassismus-Begriffs. Tanja Abou erläuterte die Definition der Diskriminierungsform nach Francis Seeck:

 Klassismus beschreibt die Diskriminierung aufgrund von Klassenherkunft oder Klassenzugehörigkeit. Klassismus richtet sich gegen Menschen aus der Armuts- oder Arbeiter*innenklasse, zum Beispiel gegen einkommensarme, erwerbslose und wohnungslose Menschen oder Arbeiter*innenkinder.

(Francis Seeck: Hä, was heißt denn Klassismus? In: Francis Seeck / Brigitte Theißl (Hrsg.): Solidarisch gegen Klassismus – organisieren, intervenieren, umverteilen; S. 17; Unrast 2020)

Die eigene soziale Position bestimme also das Armutsrisiko. Tanja Abou erklärte, dass die Gruppen mit dem höchsten Armutsrisiko in Deutschland Kinder und alleinerziehende Elternteile bzw. Mütter seien – fast jedes fünfte Kind sei armutsgefährdet. Klassismus betreffe neben dem materiellen Faktor Geld dabei auch Ressourcen wie Bildung, Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe, also Ressourcen, die eine aktive Beteiligung und Partizipation ermöglichten.

Wie stark die soziale Herkunft das Leben präge, sei beispielsweise an den Bildungswegen von Kindern erkennbar. Die Darstellungsform des sogenannten „Bildungstrichters“ zeige anschaulich, wie viele Kinder in Deutschland welchen Bildungsabschluss erreichten - je nachdem, ob sie in akademischen oder nicht-akademischen Haushalten aufgewachsen seien. Von 100 Kindern würden beispielsweise 79 Kinder aus akademischen Haushalten ein Studium beginnen, aus nicht-akademischen Haushalten nur 27. Tanja Abou verwies in diesem Kontext auch auf den „Habitus“ von Eltern in Kindertageseinrichtungen: Je nach erlerntem Auftreten und angeeigneten Umgangsformen könne dies zu einer Machtposition führen, aus der heraus Eltern beispielsweise mit den pädagogischen Fachkräften interagieren.  

Zudem sei eine intersektionale Perspektive auf Klassismus wichtig, da Ungleichverhältnisse oftmals miteinander verwoben seien und sich wechselseitig bedingen würden. So sei Klassismus oftmals auch mit rassistischer Diskriminierung verschränkt, beispielsweise wenn Kinder sowohl hinsichtlich ihres „Migrationshintergrunds“ als auch des „sozialen Hintergrunds“ markiert würden.

Im letzten Workshop-Teil reflektierten die Teilnehmenden in Kleingruppen anhand von Praxisbeispielen, wie sich Klassismus in Kindertageseinrichtungen konkret zeige und welche Handlungsmöglichkeiten es gebe. Als Fallbeispiele wählte Tanja Abou dabei folgende Szenarien aus:
 

  • Der Bio-Einkauf: In einer Kita wird ein rotierender Snack-Einkauf von den Eltern organisiert. Dazu gibt es eine Liste mit Bio-Lebensmitteln, in der sowohl spezifische Läden als auch die Marken und Preise der Lebensmittel festgehalten sind. Der Kaufpreis beläuft sich auf auf knapp 200 Euro. Diese Summe ist für einzelne Eltern(teile) kaum zu bezahlen. Die Eltern, die Bio-Lebensmittel einfordern, empfinden den Einkauf durch das Rotationsprinzip als gerecht und vertreten die Auffassung, dass die Kosten somit absehbar und planbar sind. Eine Mutter schlägt den Kompromiss vor, Bio-Lebensmittel zu kaufen, aber auf die Vorgabe von Läden und Marken zu verzichten, so dass auch Angebote und günstigere Läden genutzt werden können.
  • Stiller Ausschluss von Eltern / erwachsenen Bezugspersonen: In der Kita ist über Familie X bekannt, dass die erwachsenen Bezugspersonen ALG II beziehen. Bei der Abholung der Kinder wird wenig mit Familie X gesprochen. Die Erzieher*innen bekommen mit, dass die anderen Eltern / Bezugspersonen den Kontakt mit Familie X meiden. Ein Vater merkt hinter Frau X’ Rücken an, dass die Kosten für die Pediküre doch lieber in Kinderbücher gesteckt werden sollten.
  • Servicebetrieb Kita: Abholzeit. Herr Y teilt Kollegin Z mit, dass er heute eine halbe Stunde später kommen wird. Er habe noch wichtige Dinge zu erledigen. Dies ist nicht das erste Mal, dass Herr Y anruft und ohne Nachfrage mitteilt, dass er später kommt. Als er bei der Abholung darauf angesprochen wird, dass die Kolleg*innen nicht regelmäßig Überstunden machen können, merkt Herr Y an, dass er für den Platz bezahlt und dementsprechend eine Dienstleistung erwarten kann. Er habe eine wichtige Leitungsposition und könne sich nicht vorstellen, dass "eine halbe Stunde länger Pos abwischen" so sehr ins Gewicht falle.

In der Abschlussrunde wurde nochmals deutlich gemacht, wie vielfältig sich klassistische Situationen in Kindertageseinrichtungen gestalten könnten und dass es oftmals Kenntnisse und Hintergrundwissen brauche, um die Diskriminierung als solchen erkennen zu können. Der Wunsch nach weiteren entsprechenden Fortbildungsangeboten für pädagogische Fachkräfte wurde ebenso geäußert wie der nach einer stärkeren gesellschaftlichen Lobby für betroffene Menschen.

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Social Media Kampagne
"Wer nicht fragt...Demokratiebildung auf den Punkt gebracht": Klassismus in der KiTa

Weiterführende Literatur und Informationsangebote:
 

Abou, Tanja (2017): Klassismus Oder: Was meine ich eigentlich, wenn ich von Klassismus spreche? Eine Annäherung., Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e. V. (IDA), Düsseldorf

El Mafaalani, Aladin (2015): Bildungsaufstieg – (K)eine Frage von Leistung allein?, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn

Koné, Gabriele (2019): Armutssensibles Handeln in der Kita: https://situationsansatz.de/wp-content/uploads/2019/08/Kon%C3%A92019_Armutssensibles-Handeln-Kita.pdf

Seeck, Francis (2022): Zugang verwehrt, Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert, Atrium, Zürich

Podcast "Demokratie & Vielfalt - Alle inklusive? Der KiTa-Podcast": Folge 2 - Na Klasse! Die Bedeutung von Status und Klassismus in der Kindertagesbetreuung

Bücherliste zum Thema Armut und Klassismus: https://situationsansatz.de/kinderbucher_themen/armut-klassismus/

 

 

Das Bild zeigt drei Personen, die sich alle an der Hand fassen. Sie befinden vor einem Haus mit der Aufschrift Kita. Eine der Personen sitzt im Rollstuhl