Katrin Reimer-Gordinskaya ist promovierte Psychologin, lehrt als Professorin für Kindliche Entwicklung, Bildung und Sozialisation an der Hochschule Magdeburg-Stendal und ist Vorstandsmitglied des dortigen Kompetenzzentrums Frühe Bildung (KFB). Zu ihren Themenschwerpunkten zählen Vielfalt, intersektionale Machtverhältnisse (insbesondere Klassismus, Sexismus, Adultismus, Rassismus) und Rechtsextremismusprävention. Zuvor arbeitete sie in der außerschulischen Bildung mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und leitete verschiedene Projekte, wie das Modellprojekt Ino & Kivi zur Förderung von Vielfalt in Kitas und Grundschulen sowie das Modellprojekt KiWin gegen Exklusion und für Inklusion in Kitas. Derzeit forscht sie u. a. zu Klassismus in der Berliner Stadtgesellschaft und entwickelt eine Handreichung für die Kita-Praxis zum Umgang mit Heterogenität entlang von Klasse, ‘Race’, Geschlecht und Alter.
Warum ist Klassismus ein relevantes Thema für die Kindertagesbetreuung? Wie machen sich Klassenverhältnisse im KiTa-Alltag bemerkbar?
Weil Klassismus Kinder, Eltern und Fachkräfte selbst betrifft und weil es professionell geboten ist. Wir verstehen unter Klassismus die systematisch ungleiche Anerkennung und Teilhabe von Menschen in materieller, kultureller und sozialer Hinsicht. Diese Differenzen existieren nicht zufällig und sie sind empirisch auch für den Bereich der frühen Bildung feststellbar. Ihnen liegt eine Klassenstruktur zu Grunde, in der die Menschen unterschiedlich positioniert sind und mehr oder weniger solidarisch agieren.
KiTas sind mitten drin in diesem Geschehen. Mit Blick auf die Kolleg*innen: Warum bekommen Erzieher*innen in ihrer Ausbildung nicht selbstverständlich von Anfang an eine Vergütung wie etwa Mechatronik- und Verwaltungs-Azubis? Dieser Form von Sorgearbeit gebührt ein deutliches Mehr an Anerkennung und Einkommen in dem langen Berufsleben, anstatt sie mit Leiharbeit noch weiter abzuwerten. Recht offensichtlich sind klassenbezogene Differenzen auch im Vergleich von KiTas, die u. a. mit Chinesisch- und Englischkursen, erlesener Ernährung und ausgefeilten pädagogischen Konzepten die Ansprüche und Aspirationen von Eltern der urbanen Ober- und Mittelschicht bedienen und KiTas in prekarisierten Stadtteilen und strukturschwachen ländlichen Räumen, in denen Konflikte wegen ausbleibender Essensgeldzahlungen entstehen und besondere Angebote für die Kinder nicht finanzierbar sind. Aber auch in unterschiedlichen kulturellen Normen und Normalitätserwartungen von Fachkräften und Eltern können sich Klassendifferenzen zeigen: Etwa, wenn Fachkräfte einen bestimmten Medienkonsum oder den Besuch bei McDonalds problematisieren, während manche Eltern (und Kinder) beides als etwas Besonderes wertschätzen. Kinder leben nicht nur in den angedeuteten unterschiedlichen Klassenwelten, sondern nehmen es vor allem wahr, wenn sie von Klassismus betroffen sind, auch wenn sie die Ursachen nicht durchschauen. Sie leiden darunter, vom Mittagessen ausgeschlossen zu werden; sie sind traurig, wenn andere Kinder sie hänseln, weil ihre Kleidung muffig riecht oder sie nicht von ähnlichen Geschenken, Wochenend- und Urlaubsaktivitäten berichten können wie ihre Peers [englische Bezeichnung für Gleichaltrige].
Es gibt also eine ganze Palette relevanter Anlässe, um sich mit Klassenverhältnissen in KiTas auseinanderzusetzen. Wie das geschieht, muss fallbezogen und sensibel vor Ort in den Teams und mit Unterstützung der Träger entwickelt werden. Last, but not least gehört es u. a. laut SGB VIII und den Bildungsplänen der Länder auch zum professionellen Auftrag, zum Abbau von sozio-ökonomischen Ungleichheiten in der frühen Bildung beizutragen.
Wie hängt Klassismus mit anderen Diskriminierungsformen und Machtverhältnissen zusammen? Wie stellen sich diese Überschneidungen in der pädagogischen Praxis dar?
Ich will drei Beispiele nennen: 1) Die bereits erwähnte relative Abwertung des Berufs der Erzieher*innen hat damit zu tun, dass Sorgearbeit im Rahmen traditioneller Geschlechterverhältnissen überwiegend Frauen überantwortet wird. Und weil Sorgearbeit nicht so profitabel ist wie die industrielle Herstellung von Massenprodukten, wird sie oft unbezahlt oder durch relativ niedrige Löhne verrichtet sowie durch Ausdehnung und Intensivierung des Personalschlüssels profitabler bzw. weniger kostenintensiv gemacht. Die Folgen haben nicht nur die vielen Frauen, sondern auch die wenigen Männer zu tragen, die sich in den Beruf aufmachen und dort auch mit ambivalenten Reaktionen zwischen Begeisterung und Ablehnung umgehen müssen. Gemeinsam können die Kolleg*innen für einen Wandel in diesen Geschlechterverhältnissen sorgen, indem sie für eine finanzielle und ideelle Aufwertung ihrer Arbeit streiten und Modelle geschlechtergerechter Sorgearbeitsteilung vorleben.
2) Zusammenhänge gibt es auch zwischen Klassismus und Rassismus in der frühen Bildung. So sind aufgrund systematischer Hürden im Bildungssystem und beim Zugang zum Arbeitsmarkt überproportional viele Eltern und Kinder mit Migrationsgeschichte von Prekarisierung und relativer Armut betroffen. In Konflikten um ausbleibende Essensgeldzahlungen klingen vor diesem Hintergrund bisweilen neben klassistischen auch rassistische Ressentiments an. Und während Englisch und ähnliche Sprachen ein hohes Prestige haben, wird Familiensprachen wie Arabisch, Farsi oder Türkisch oft weniger Achtung geschenkt. Umgekehrt gibt es in KiTas in prekarisierten Stadtteilen aber oft auch eine vorbildliche transkulturelle Praxis und vielfältige Kompetenzen im Umgang mit sprachlicher und religiöser Heterogenität, die in Einrichtungen mit homogenem Klientel jedenfalls nicht aus einem alltäglichen Miteinander entwickelt werden kann.
3) Wichtig ist schließlich auch, über den Zusammenhang von Klassismus und Adultismus zu sprechen. Grundsätzlich sind alle Kinder aufgrund des Zusammenspiels aus Strukturen der modernen Kindheit und Klassenverhältnissen in einer Position, die ihnen kaum Möglichkeiten der direkten ökonomischen Teilhabe bietet. Das liegt daran, dass Kinder hierzulande keine Möglichkeit zum eigenständigen Gelderwerb haben und es auch nicht üblich ist, jungen Kindern regelmäßig Geld aus anderen Quellen zur Verfügung zu stellen, sodass sie sich (auch) selbst Dinge kaufen könnten. Aufgrund ihres Ausschlusses aus Erwerbsarbeit sind Kinder nicht selbst direkt in Klassenstrukturen positioniert, aber sie teilen die unterschiedlichen Klassenlagen ihrer Eltern, haben also je nachdem größere oder kleinere Chancen auf Anerkennung und Teilhabe.
Wie können Fachkräfte für Klassismus sensibilisiert werden? Sollte es Thema in der Aus- und Weiterbildung sein? Wie können Fachkräfte Klassismus in der Praxis begegnen?
Wir können in der frühen Bildung an lange Jahre der Entwicklung von Strategien, Konzepten und Methoden heterogenitätssensibler und diskriminierungskritischer Bildungsarbeit in Bezug auf andere Machtverhältnisse anschließen. Es ist wichtig, das Thema Klassenverhältnisse auf allen Ebenen zu setzen, es also in Fort- und Weiterbildungen in den Teams sowie bei den Trägern und Verbänden gezielt anzugehen und in der Ausbildung an Fachschulen und Hochschulen zu verankern, soweit das nicht schon geschehen ist. Unsere Erfahrung ist, dass die Sensibilisierung und Qualifizierung am besten gelingt, wenn von Praxiserfahrungen ausgehend relevante Hintergrundinformationen erschlossen werden, um daraus Handlungsstrategien für den Alltag zu entwickeln. Wir haben eine entsprechende Praxismethode mit dem Dreischritt ,Wahrnehmen-Deuten-Handeln‘ entwickelt und setzen sie in der Fortbildung ein.
Dabei können wir deutlich machen, dass Fachkräfte Klassismus in (fast) allen Bereichen des KiTa-Alltags begegnen können und das oftmals auch schon tun: Sie können sich und andere aufmerksamer dafür machen, wenn Kinder andere Kinder klassenbezogen abwerten und dann entsprechend intervenieren; sie können Situationen vermeiden, in denen benachteiligte Kinder in einen beschämenden sozialen Vergleich mit anderen Kindern geraten. Und in Einrichtungen mit Kindern aus prekär lebenden Familien kann z. B. im kleinen Rahmen umverteilt werden – z. B. durch Schuh- oder Kleiderkisten, sodass Kinder, die aus welchen Gründen auch immer nicht die passende Kleidung dabeihaben, damit ausgestattet werden können. Weitere Interventionsmöglichkeiten, die die gesellschaftliche Anerkennung des Berufs der Erzieher*innen selbst betreffen, hatte ich schon genannt und auch sozialraumorientierte Handlungsstrategien gegen Klassismus lassen sich gut entwickeln, z. B. durch Kooperationen mit Bibliotheken, Sportvereinen, engagierten Theatern und Musikschulen, um Kindern, deren Eltern es sich ggf. nicht selbst leisten können, Zugang zu solchen Bildungsangeboten zu verschaffen.
Sollten Fachkräfte wiederum die Kinder und ihre Familien über Klassismus aufklären im Sinne der Prävention und des Empowerments? Wenn ja, wie?
Zunächst einmal ist es wichtig, Armut nicht zu einem Phänomen zu machen, das Kinder angeblich nur ganz weit weg, auf anderen Kontinenten betrifft. Vielmehr können und sollten Fachkräfte durchaus Anlässe schaffen, um mit Kindern über Fragen der materiellen Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft ins Gespräch zu kommen. Dazu können Kinderbücher oder Kinderfilme oder auch traditionelle Märchen genutzt werden, in denen Armut und ein solidarischer Umgang miteinander thematisiert werden. Und wie in der rassismus- und adultismuskritischen Arbeit auch gilt es, die eigenen Vorannahmen, Überzeugungen und Handlungsweisen in einer vertrauensvollen Atmosphäre mit Kolleg*innen zu hinterfragen, um ggf. die ungewollte oder unbewusste Mitwirkung an klassistischen Praxen in der Arbeit mit Kindern und Eltern so weit wie möglich überwinden zu können – z. B. mit Blick auf die oben angesprochenen Normen und Normalitätserwartungen. Im Zuge dessen kann dann auch hinterfragt werden, wenn im Team oder der Elternschaft bspw. abwertend über Eltern im Alg-II-Bezug gesprochen wird. Mit einer solchen empathisch-solidarischen Haltung können dann auch klassistische Benachteiligungen von Kindern und Eltern im geschützten Rahmen angesprochen und Unterstützung angeboten oder vermittelt werden, soweit die Fachkräfte zeitlich und fachlich dazu in der Lage sind. Oft geschieht das auch schon, indem beim Ausfüllen von Anträgen, dem Umgang mit Behörden usw. unterstützt wird. Von einem kollektiven Empowerment betroffener Kinder und Eltern sind wir aber noch weit entfernt, weil zum Phänomen der klassistischen Benachteiligung auch die Vereinzelung gehört, die durch Scham oft noch zementiert wird.
Die Bildungschancen von Kindern hängen nachweislich immer noch bedeutend vom sozioökonomischen Status und Bildungsniveau ihrer Eltern ab. Die Bildungsnachteile wurden im Zuge der zeitweisen Kita-Schließungen nochmals verstärkt. Wie kann ein generationenübergreifender Kreislauf der Benachteiligung durchbrochen werden?
Diese Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben Ungleichheiten verstärkt, die u. a. die bekannten internationalen Schulvergleichsstudien als strukturelles Problem des bundesdeutschen Bildungssystems offengelegt haben. Wichtig ist zu verstehen, dass die in der Frage u. a. angesprochenen Bildungsaspirationen und Entscheidungen der Eltern über den Schulweg ihrer Kinder wiederum mit der elterlichen Position und Lage in der gesellschaftlichen Klassenstruktur zu tun haben. Und was in der Debatte über Bildungsungleichheiten oft weniger berücksichtigt wird ist, dass Bildungsungleichheiten im Bildungssystem teils zwar abgemildert, aber auch verstärkt werden können. Beides zeigt sich für den Bereich der frühen Bildung auch in unserer Forschung. Insofern muss auf allen Ebenen gleichzeitig angesetzt werden, um kurz- und langfristige Bildungsungleichheiten als Bestandteil von Klassenverhältnissen abzumildern: Um die groben und feinen Klassendifferenzen insgesamt abzubauen, müssten geeignete umfassende wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Maßnahmen ergriffen und zugleich die Handlungsspielräume in den Familien und in den KiTas klassismuskritisch genutzt werden. Übrigens kann dazu auch beitragen, die Kinder an Entscheidungsprozessen in den Einrichtungen direkt zu beteiligen und auf übergeordneten Steuerungsebenen anwaltschaftliche Vertreter*innen einzubeziehen. Wie eine unserer Studien gezeigt hat, wissen KiTa-Kinder nämlich recht gut mit der Pandemielage umzugehen und ihre Wünsche und Interessen zu artikulieren.